Tim | 3 juil. 2015
Meinung: Spoiler müssen nichts Schlimmes sein
Als begeisterungsfähiger Mensch mit Interessen wie Filmen, Serien, Büchern oder Videospielen fürchtet man online nichts mehr als Spoiler. Diese fiesen kleinen Aussagen, die wichtige Handlungsdetails verraten und jeden Überraschungsmoment zerstören. Das Gemeine an Spoilern ist, dass man ihnen quasi nicht entgehen kann, selbst wenn man scheinbar ausgebuffte Browser-Plugins installiert. In der Facebook-Timeline lassen Freunde (und die Menschen, die man als solche bezeichnet) ihrem Unmut über den zuletzt verstorbenen Game of Thrones-Charakter freien Lauf, bei Twitter wird die aktuellste Folge noch während der eigentlichen Sendung analysiert und Blogs lassen ihre Dissertationen nur wenige Minuten später auf die Menschheit los. Selbst fachfremde Webseiten (etwa seriöse Nachrichtenmagazine) sind mittlerweile dafür bekannt, Serien und Co. mit furchtbar unglücklich gewählten Überschriften zu besprechen.
Vermutlich können sich Internetnutzer im Allgemeinen darauf einigen, dass Spoiler etwas Schlimmes sind. Daran änderte auch ein ansprechender Artikel nichts, über den ich vor ein paar Jahren gestolpert bin. Hier wurde die fast schon dreiste Kernbehauptung aufgestellt, Spoiler seien gar nicht schlecht. Nein, sogar positiv sollen sie sein! Weil man sich mit dem ungewollten Mehrwissen beispielsweise besser auf die eigentliche Erzählung konzentrieren könne und Kleinigkeiten, Andeutungen entdecke, die einem sonst verwehrt geblieben wären. Überhaupt sei ein Spoiler nicht mehr als ein zusammenhangloser Fakt, der den wichtigen Teil einer Geschichte nicht zerstören kann: Den Weg zum Endzustand, die vielen Details, die dem eigentlich Spoiler erst Sinn verleihen. Absoluter Blödsinn! Oder?
Ein Satz verändert alles
Ganz ehrlich: Ich habe meine Meinung zum Thema Spoiler grundlegend geändert. Und damit komme ich nach einer unnötig langen Einleitung auch zur Kernaussage dieses Meinungsartikels: Spoiler sind wirklich nicht so schlimm, wie die aufgebrachten Kommentare im Internet glauben machen. Zu diesem Schluss kam ich — wie sollte es anders sein — durch einen Spoiler. Mit viel zu vielen Jahren Verspätung habe ich mir die Sandman-Comics von Neil Gaiman zu Gemüte geführt und mit großer Begeisterung gelesen. Der erste und einzige Tiefpunkt der Reihe kam beim vorletzten und vielleicht wichtigsten Band, The Kindly Ones, genauer bei der Einleitung von Mikal Gilmore. Nach der üblichen Lobhudelei über die Comicreihe und dessen Erschaffer starrte ich auf diesen unerwarteten Satz: „Dream dies at the end.“ BAM! Da saß ich und konnte meinen Augen nicht trauen. Hatte Gilmore gerade tatsächlich das Ende verraten und in den darauf folgenden Zeilen auch noch den letzten Band grob zusammengefasst? Ja, hatte er …
Wie kam er dazu? Die Rechtfertigung bringt er unverzüglich: Sandman sei eine klassische Tragödie, da sollte man von Beginn an wissen, was einen erwartet. Die Begründung habe ich nie wirklich verstanden, wohl aber dies: Ich hatte beim anschließenden Lesen wie bei allen Ausgaben zuvor unfassbar viel Spaß. Die Befürchtung, dass ich die ganze Zeit nur darüber grübeln würde, wie das unvermeidliche Ende zustande kommen könnte, erwies sich als unnötig. Als mir das klar wurde, dachte ich an ein noch viel früheres Ereignis zurück, als mir ein und dieselbe Person vorab sagte, wer in Harry Potter und der Orden des Phönix und Harry Potter und der Halbblutprinz sein Leben lässt. Was hatte ich mich geärgert, wie konnte mein Freund im Schafspelz mir nur so etwas antun? Dabei hat er mir gar nichts angetan, die Bücher habe ich trotzdem verschlungen, wie es nur ein wissbegieriger Fan tut. Und Se7en ist nach wie vor einer meiner Lieblingsfilme, obwohl mir das Ende netterweise vorab zugetragen wurde.
Zeit, Relevanz & Erwartungshaltung
Ist es also okay, mit einem Megafon durch die Stadt zu rennen und die aktuellen Geschehnisse aus Westeros herum zu brüllen? Nein, natürlich nicht. Aber man sollte entspannter mit dem Thema umgehen, denn eins steht fest: Es gibt keine Garantie auf Spoilerfreiheit — vor allem nicht auf Lebenszeit! Denn eine Grenze zu ziehen, ab wann man ohne Rücksicht über bestimmte Dinge sprechen kann, ist unfassbar schwierig. Beispiel Game of Thrones: Muss ich tatsächlich darauf achten, in Diskussionen nicht vom Tod Eddard Starks zu sprechen? Ein Ereignis aus einem Buch, das 1996 erschienen ist — selbst die Szene aus der Serie hat mittlerweile vier Jahre auf dem Buckel und ist so ziemlich jedem bekannt. Ich bin unsicher. Wie sieht’s aus bei Herr der Ringe, darf ich ohne vorheriges Nachfragen über Gandalfs wundersame Rückkehr im zweiten Buch/Film sprechen? Prinzipiell sollte das Urteil bei beiden Situationen gleich ausfallen, es würde mich aber nicht wundern, wenn die Leute weniger Probleme mit dem Gandalf-Spoiler haben.
Bei der Frage, wann man ohne Bedenken über Dinge sprechen kann, ist nicht nur Zeit ein Faktor. Damit zu einem persönlichen Beispiel über einen Simpsons-Facebook-Post. Ohne mit der Wimper zu zucken schrieb ich, dass Tingeltangel Bob seinen lang gehegten Wunsch erfüllen und Bart töten würde! Eine Neuigkeit, mit der ich scheinbar etlichen Menschen die Serie für immer ruiniert habe — so liest sich zumindest der Tenor der zugehörigen Kommentare. Ich gebe zu, ich war verwundert. Denn natürlich stirbt Bart nicht wirklich, es geht lediglich um ein maximal zehnminütiges Halloween-Special, über das die Serienmacher selbst öffentlich sprachen. Ergo ist es ein nicht-kanonisches Detail, für Bart und Familie ändert sich absolut gar nichts. Ja, ich hätte „Spoiler“ vor die Meldung schreiben sollen, aber die Reaktion war in meinen Augen doch übertrieben. Zumal das Thema auf so ziemlich allen thematisch passenden und auch etlichen thematisch anders ausgerichteten Webseiten besprochen wurde. Müsste jemand, der so stark auf solche Infos anspringt, nicht konsequent seinen DSL-Anschluss kündigen?
Bei der folgenden Diskussion wurde natürlich auch das fehlende Überraschungsmoment als Argument ausgegraben. Aber selbst das kann ich nur in den seltensten Fällen gelten lassen, denn sind wir mal ehrlich: Krasse Überraschungen und unerwartete Wendepunkte sind bei vielen Werken zu einem wiederkehrenden Element geworden. Je nach Film, Buch, Serie oder Spiel wartet man doch geradezu auf diesen einen Moment, der einen jetzt vom Hocker hauen soll. Bei einem Tarantino-Film ist es das obligatorische Blutbad nach schier endlosen Dialogen, bei Game of Thrones das Ableben einer wichtigen Figur. Und bei einer Halloween-Folge der Simpsons ist es eben irgendetwas Verrücktes, das die eigentliche Serie kein Stück beeinflusst. Ich bin mir bewusst, dass dieses Argument nicht in allen, wohl aber in den meisten Fällen gilt: Ein Genre (oder Regisseur) ist ein Spoiler für sich.
Sind Spoiler etwas Gutes?
Sind Spoiler also etwas Gutes? Nein, das kann ich so nicht sagen. Aber sie sind auch nicht so schrecklich, wie das Internet gern behauptet. Ich würde mir wünschen, dass die Leute entspannter reagieren und nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit Hasstiraden um sich werfen — dafür gibt es insbesondere online zu viele dieser Gelegenheiten. Wer tatsächlich nichts Schlimmeres kennt als Spoiler, der muss konsequent sein und das Internet meiden, am besten auch noch Freunde und Bekannte mit ähnlichen Interessen. Klar werde ich auf Facebook und Co weiter auf Spoiler hinweisen, da mein Interesse, anderen Geschichten zu verderben, nicht sonderlich ausgeprägt ist. Aber ich möchte auch in Kommentaren (oder gar „echten“ Unterhaltungen) über aktuelle Themen sprechen und diskutieren können, ohne vorher stundenlang meine Worte mit Bedacht zu wählen oder bei jedem Einzelnen mit größtmöglicher Vorsicht zu erfragen, bei welcher Staffel und Folge er bei Game of Thrones gerade ist; zumal das nicht reicht, es folgt die Recherche bei Wikipedia und IMDB, was in entsprechender Folge passiert, weil ich es nicht auswendig weiß. Mit diesem Ansatz habe ich nicht nur weniger Sorgen und mehr Zeit, sondern auch noch mehr Spaß.
Tim
PS: Snape tötet Dumbledore, Bruce Willis ist den ganzen Film über tot und Tyler Durden IST der Erzähler. Gern geschehen!